Diverse Körper, diverse Tänze – Dein Körper, Dein Tanz

Lesedauer 8 Minuten

Ich muss gestehen, ich schaue selten Fernsehen und vor allem kaum deutsches Fernsehen, doch heute wurde ich durch einen Instagram Post aus meiner engeren Bubble auf eine TV Doku in der ARD Mediathek aufmerksam und bin sehr dankbar, dass ich sie gesehen habe.

Es handelt sich dabei um ein Portrait eines jungen Kollegen, dem Choreographen und Tanzpädagogen Chris Fandrey aus Düsseldorf, der wohl vorwiegend im Commercial zu Hause ist.

Chris erzählt in diesem TV Portrait von seiner Tanzlaufbahn. Schon als Kind hatte er mit Übergewicht zu kämpfen, wurde deshalb und wegen seiner Queerness gemobbt und hat sich in den Tanz geflüchtet. Seine Tanzlaufbahn führte ihn trotz aller Vorurteile und körperlicher Stereotype in eine professionelle Tanzkarriere als Pädagoge und Choreograph. Trotz dieses Erfolges sind die Struggles und Diskriminierungen innerhalb und außerhalb der Tanzszene bis heute präsent.

Ich möchte nicht zu viel spoilen, sondern jeder Person, egal ob Tanzender oder nicht, ans Herz legen die Doku zu schauen.

Zu finden ist die circa 40minütige Doku derzeit in der ARD Mediathek:

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xOTU1NzM/

Ich habe mich in der Doku sehr oft selbst gesehen und viele Parallelen gesehen. obwohl meine eigene Geschichte anders ist. Vor allem hat sie mich angeregt, einen Teil meiner Geschichte aufzuschreiben, was ich schon lange tun wollte.

Auch ich habe schon als Kind angefangen zu tanzen, bekam eine umfassende Ausbildung von Klassisch bis Modern, Folklore bis Show und sogar Gesellschafts- & Turniertanz.

Der Unterschied zu Chris ist, dass ich von Kindheit an bis zum Ende meiner Bühnenkarriere nie wirklich zu dick war. Dennoch hatte ich immer struggles mit meinem Körper, habe mich immer zu dick gefühlt und lange geglaubt, mein Körper wäre nicht gut genug.

Wenn ich heute Fotos sehe denke ich, oh war ich dünn, gefühlt habe ich das früher nie. Warum? Weil ich schon als Kind von Pädagog:innen gesagt bekam, meine Proportionen seien nicht gut, ich müsse auf mein Gewicht achten. Der Grund dafür war, dass ich etwas kurze und kräftige Beine habe im Vergleich zu der Länge meines Oberkörpers, der aber andererseits immer schon einen breiten Rücken- und Schulterbereich hatte. Dadurch war ich zwar ein exzellenter Springer und Dreher aber konnte oft den individuell subjektiven Geschmack der Pädagogen bezüglich gewünschter Körperlinien nicht erfüllen.

Meiner Mutter wurde gesagt, sie müsse auf mein Gewicht achten. In ihrer Überforderung und Unwissenheit machte sie den einzigen erzieherischen Fehler, den ich ihr heute noch vorwerfe und dessen Auswirkungen mich bis heute begleiten: Sie rationierte mein Essen. Jeder Snack wurde mit erhobenem Zeigefinger kommentiert, mit der Folge, dass ich irgendwann nachts heimlich an den Kühlschrank ging oder mir vom Taschengeld Essen kaufte statt ins Kino zu gehen. Ich hatte tatsächlich häufig richtige schmerzhafte Hungergefühle. Wenn ich aß, stopfte ich viel zu große Portionen in mich hinein, aus der Angst, dass es dauern würde bis mir das nächste Essen erlaubt würde. Folge: Bis heute habe ich oft ein schlechtes Gefühl beim Essen, ich fühle mich oft beobachtet, was natürlich Quatsch ist, ich habe bis heute manchmal Panikattacken, wenn ich nicht genug eingekauft habe und kein Essen zu Hause habe. Wenn es da muss ich gar nicht viel essen, aber wenn es nicht da ist kommt wieder diese Angst vor Hunger auf. Bis heute esse ich oft lange nichts und dann wieder viel zu große Portionen, habe oft Schwierigkeiten zu erkennen, dass ich längst satt bin. Zum Glück muss ich mich heute nicht mehr übergeben und meine Essstörungen haben sich gebessert, doch dazu später.

An der Akademie hat man uns damals täglich gewogen und wenn man auch nur 500 g zugenommen hatte, wurde man vor der gesamten Klasse bloßgestellt. Wir bekamen sogar den Rat, wenn wir Hunger hätten, sollten wir Watte in Orangensaft tunken und schlucken, damit wir kein Hungergefühl hätten, was die gesamte Ausbildungsklasse auch tat.

Zum Glück sind viele Schulen heute weiter und die Pädagog:innen ernährungswissenschaftlich besser geschult, in Frankreich beispielsweise gibt es sogar Gesetze, die Lehrende, welche Schüler in die Magersucht treiben, haftbar machen und sogar ins Gefängnis bringen können. Doch leider gibt es international und auch in Deutschland bis heute Tanzpädagog:innen und Schulen, die an einem alten Körperbild und tradierten Idealen festhalten.

Ich selbst kann aus pädagogischer Sicht sagen, es ist aber auch nicht einfach, das richtige Maß und den richtigen Weg zu finden. Auf der einen Seite haben wir damit zu kämpfen, dass die Kinder heute oft immer übergewichtiger werden und wenn man behutsam gegen steuert, kann man Ihnen einiges an Problemen in der Zukunft ersparen, auf der anderen Seite kann man aber auch viel falsch machen und wie bei mir und vielen Kollegen, Essstörungen forcieren.

Statt die Besonderheiten meines Körpers und mein Talent zu fordern und zu nutzen wurde ich von meinen Pädagog:innen in eine stilisiertes Ideal gepresst, in eine einseitige Ästhetik. Ich mache ihnen nicht wirklich Vorwürfe und sage mir immer, sie wussten es nicht besser und waren in ihren Traditionen gefangen.

Heute als Choreograph weiß ich, wie langweilig diese eine Ästhetik ist, wie künstlich. Doch Kunst sollte nicht von künstlich kommen. Das habe ich erst verstanden als ich mich mit anderen Tanzstilen beschäftigt habe, meistens mit nicht-weißen Tänzen.

Ende der 80er Jahre studierte ich bei Alvin Alley und am Harlem Dance Institute in New York. Ich lernte eine völlig andere Ästhetik und einen anderen Umgang mit Körper kennen, eine Ästhetik, die aus der Kultur der Black und LatinX stammte und die mich bis heute geprägt und beeinflusst hat.

Dazu wurde ich als einer der wenigen weißen Jungs aufgenommen von der Ballroom Community. Bis heute bin ich dankbar, das ich dort Gast sein durfte und dank meines Freundes Willi Ninja akzeptiert, respektiert und vor allem gelehrt wurde. Heute weiß ich, dass Ballroom und seine Community und Kultur mich nicht nur bis heute künstlerisch beeinflussen, sondern, ohne zu dramatisch klingen zu wollen, gerettet hat. Bevor ich nach NewYork kam war ich fast magersüchtig. Ich wog bei 183cm ganze 68kg.

Die Ballroom Community hat ein anderes Schönheitsbild, die Philosophie lautete, jeder ist schön auf seine Art, jeder Körper hat seine Schönheit und seine Fähigkeiten. Im Ballroom feiert man Individualität, Kids aus marginalisierten Gruppen feiern sich gegenseitg, jeder ist fabulous egal welche Hautfarbe, welcher Körper, welche Geschlechtsidentität, welche Sexualiert und welcher sozialer Status.

Ich habe in dieser Zeit gelernt, mich etwas mehr zu akzeptieren und war zeitweilig sogar so gefestigt, dass es mir egal war, ob jemand meinem Körper ideal fand. Meine eigene Stilistik in meinen Choreografien ist stark davon beeinflusst, Zitate finden sich bis heute in meinen Arbeiten.

Im Tanz war ich fort an sicher und wusste, dass ich mit meinem Talent, meiner Ausstrahlung und meinem Können besonders war. Der Erfolg und meine Karriere gaben mir Recht, aber es gab ein anderes Problem.

Genau wie Chris. Aus dem TV Beitrag bin ich ein queerer Mensch. Besonders unter schwulen Männern außerhalb der Ballroom und Drag Community waren die Struggles wieder da. Die körperliche Ästhetik von schwulen Männern ist oft an einem Idealbild festgemacht welches sehr stereotyp maskulin ist und nur von wenigen erfüllt werden kann. Mal war ich zu dünn und zu wenig muskulös für den Fleischmarkt, dann trainierte ich, war gefragter aber durch zu viele Muskeln litt mein Tanzen.

Heute wo ich übergewichtig bin, fühle ich bodyshaming innerhalb der schwulen Community noch extremer. Obwohl es oft sehr verletzt, so zerstört es mich nicht mehr, da ich weiß, dass ich auch mit einem perfekten Körper für Viele nicht gut genug war.

Ich habe mich immer schon in einer queeren diversen Community wohler gefühlt als in einer rein schwulen Community, die sich an maskulinen Traumbildern orientiert. Ich habe mich schon in den 90ern als queer bezeichnet, wenn denn jemand unbedingt ein Label von mir haben wollte, da ich queer einfach inklusiver, diverser und freier fand. Das sollte auch unser Tanz werden.

Wenn wir jetzt noch mal zurück an Chris denken, kann man dich ausmalen, dass er, wie er erzählt, schon als Jugendlicher doppelt gemoppt worden ist, als schwuler und übergewichtiger Junge.

Ich selbst habe als Kind zum Glück wenig Bullying erfahren, ich hatte Glück, das Bullying passiert erst in den letzten Jahren. Aber es tut mir weh solche Geschichten wie von Chris hören zu müssen. Viele Kinder müssen so etwas leider heute ertragen.

Als ich aufhörte auf der Bühne zu tanzen in 2002, nahm ich kontinuierlich zu. Zunächst, weil ich Essen wieder ohne schlechtes Gewissen genießen konnte. Doch dann von circa 2006-2016 nahm ich mit jedem Jahr immer mehr an Gewicht zu, ich arbeitete sogar mit Ernährungswissenschaftlern, die feststellten, dass ich gar nicht zu viel oder zu falsch esse. Ich unterrichtete fast jeden Tag. Ich bewegte mich und trieb Sport, flog um die Welt und choreographierte international, dennoch nahm ich ständig an Gewicht zu. Meine Arbeit fiel mir immer schwerer, ich überdosierte mich mit Schmerzmitteln, um weiterhin Leistung zu erbringen und Erwartungen zu erfüllen. Ich verlernte, auf meinen Körper zu hören.

2016 wog ich plötzlich 230 kg, bekam kaum noch Luft und konnte kaum einen Schritt gehen.

Nach einer langen Krankenhaus Odyssey stellte man fest, dass ich eine Herzschwäche hatte, die vermutlich dadurch entstanden war, dass ich einmal oder mehrfach Vorstellungen mit Fieber und Infekt getanzt hatte, die zu einer Herzmuskelentzündung geführt haben, welche langfristig das Herz schädigte. Durch die Überdosierung von Schmerztabletten hatte meine Niere gelitten und funktionierte nicht richtig. Durch den Fehlfunktionen meines Herzens und meiner Niere hatte mein Körper nicht nur kiloweise Wasser eingelagert, sondern auch der Fett Stoffwechsel war komplett gestört. Durch zahlreiche Medikamente und eine lange Reha nahm ich schließlich fast 100 Kilo ab, das Meiste war eingelagertes Wasser. Nachdem ich sogar einige Monate im Rollstuhl verbringen musste, konnte ich nun Mitte 2017 zurück in meinen Beruf und meine internationale Karriere als Pädagoge und Choreograph fortsetzen, wenn auch bis heute mit starkem Einschränkungen. Dennoch bin sehr dankbar für diesen Neustart.

Ich war zwar immer noch nicht dünn, aber ich konnte mich wenigstens wieder bewegen. Die chronischen Einschränkungen bleiben ein Leben lang, und mein Gesundheitszustand ist ein ständiges auf und ab, in der Corona Zeit ist das Maß an Bewegung wieder zurückgegangen und ich habe wieder Gewicht zugenommen, das ich jetzt langsam und mühsam wieder etwas reduzieren muss. Mit dem Jojo Effekt bin ich bestens bekannt.

Ich habe mich damit abgefunden, nie wieder komplett schlank zu sein, aber ich habe meinen Frieden mit meinem Körper gefunden, auch wenn von außen immer noch Body Shaming und komische Kommentare oder Blicke auf mich treffen. Ich würde mir wünschen, dass unsere Gesellschaft lernen würde, Übergewicht nicht mehr als Versagen und Schwäche zu stigmatisieren, es gibt zahlreiche Gründe warum Menschen dick sein können. Unsere Gesellschaft ist so auf Werbeideale geeicht, dass vermeintlich nicht Ideales negativ gewertet wird. Doch niemand sollte den Körper eines Anderen bewerten.

Leute wie Chris und ich polarisieren auch heute noch in der Tanzwelt. Wir müssen mit Vorurteilen klar kommen und immer zunächst beweisen, was wir können, da wir nicht danach aussehen. Wir müssen immer etwas besser sein als ein stereotyp sexy Kollege mit perfekten Körper.

Wir müssen methodische Wege finden um zu unterrichten, da nicht alles bei unseren Körpern machbar ist. Und darin liegt ein Unterschied zwischen Chris und mir. Chris war immer übergewichtig, sein Körper wurde mit Gewicht ausgebildet und er ist jung, er kann mit dem Gewicht umgehen, er kann noch vieles vormachen im Unterricht. Dafür beneide ich ihn.

Ich habe gelernt zu tanzen als ich schlank war, nach 50 Jahren Tanz hat mein Körper gelitten, ich kann noch etwas vormachen, meine Gelenke schmerzen und durch eine Neuropathie, ausgelöst durch die Medikamente, die ich nehmen muss, habe ich starke Probleme mit meiner Balance. Das Gewicht wirkt natürlich sehr belastend auf meinen Körper.

Dennoch sind meine Workshops voll und ich werde weltweit gebucht. Ich habe genug Erfahrung und Wissen um im Sitzen zu unterrichten.

Meine Schüler profitieren sogar davon, da sie nicht nur das Vorgemachte nachahmen, sondern meine Worte erst im Kopf verstehen müssen, bevor sie sie umsetzen, quasi durchs Ohr ins Hirn und dann in die Muskulatur. Ich bin sehr dankbar, dass die Studios, in denen ich unterrichte, voller Schüler sind, die scheinbar verstehen, das jeder älter wird und dass man von älteren, erfahrenen Pädagog:innen lernen kann. Den Popstar, Tänzer gleich Model Stil meiner jungen Kolleg:innen kann und will ich nicht erfüllen, so habe ich auch früher nicht unterrichtet. Die jungen Tänzer machen tolle Sachen, aber ich werde sehr sauer, wenn sie bewusst oder unbewusst herablassend auf ältere Kolleg:innen schauen.

Ich bin froh, dass es immer mehr Menschen in der Tanzwelt gibt, wie Chris und mich. Nicht nur Menschen mit Übergewicht, auch Personen mit anderen, nicht stereotyp idealen Körpern werden sichtbarer. Auch werden stereotype Rollenbilder und Hierarchien endlich durchbrochen. Ich bin sehr froh darüber, schon als ich selbst noch schlanker war, habe ich versucht mit tradierten Idealen zu brechen in meinen Choreografien.

Wir brauchen nicht nur neue Methoden und Wege um Tanz für unterschiedliche Körper zu vermitteln und greifbar zu machen sowie unterschiedliche Tänzer nach ihren Möglichkeiten auszubilden. Wir brauchen eine andere Sicht auf Bewegungsästhetik. Besonders für mich als Choreograph besteht der Ehrgeiz darin, Choreografien so individuell zu entwickeln, dass man jeden Körper in seiner individuellen Schönheit in Szene setzen kann. Wie ich immer sage, ist es eine Aufgabe eines Choreographen, den Tänzer auf der Bühnen gut aussehen zu lassen.

Der Tanz hat die Chance weniger stilisiert und künstlich zu werden, realistischer und echter, diverser und gleichberechtigter, weniger ausgrenzend.

Wenn wir zurückschauen haben dies bereits die Pionier:innen des Ausdruckstanz und des Modernen Tanzes ab 1900 versucht, indem sie begannen, den Körper aus dem Korsett und den Zwängen des klassischen Ballett zu befreien.

Ich glaube, heute ist es an der Zeit diese tänzerische und gesellschaftliche Revolution fortzusetzen.

Um den Untertitel des Beitrags über Chris abgeändert aufzugreifen:

Dein Körper, Dein Tanz, Deine Ästhetik. Jeder tanzende Mensch ist schön.

(c) Titelbild by Pixabay

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